Manche Stücke kennen Chorsänger in- und auswendig – und könnten eigentlich sofort mitsingen: Bachs Weihnachtsoratorium zum Beispiel. In Mainz wird es fast jedes Jahr gesungen: vom Bachchor, der Singakademie, dem Gutenberg Kammerchor, dem Domchor. Manchmal kommen alle sechs Kantaten zur Aufführung, manchmal nur eine Auswahl – doch stets vor großem Publikum.
Diese Begeisterung für Bachs Musik nahm Domkapellmeister Karsten Storck zum Anlass, im Dom erstmals ein Konzert zum Mitsingen zu veranstalten: Vier Kantaten aus Bachs Weihnachtsoratorium – mit Chören, Rezitativen, Arien und Chorälen. Diesmal waren die Konzertbesucher allerdings ausdrücklich eingeladen, die Kirchenlieder mitzusingen. In vielen deutschen Städten erfreuen sich solche Sing-along-Konzerte mit dem „WO“ großer Beliebtheit und auch in Mainz füllten die zahlreiche „Gastsänger“ den Dom bis auf den letzten Platz, um in den Chorälen mit der Domkantorei, den Männerstimmen des Domchors und dem Domorchesters zu einem einzigen Klangkörper zu verschmelzen.
Am Tag zuvor hatte Storck die Musiker für eine Generalprobe in den Dom zitiert – ein Wagnis, denn würde ein einziger Durchgang reichen? Tatsächlich liegt der 20. Dezember 2015, an dem hier das „WO“ zum letzten Mal erklang, schon länger zurück. Doch gerade, wenn man als Chorist dieses Stück mal nicht selber singt, hört man es sich doch immer wieder gerne in einem Konzert oder auf CD an und bleibt somit „drin“. Daher war es keine große Überraschung, dass die Generalprobe fast so klang, als hätte man zuvor länger geprobt.
24 Stunden später betraten die Chorsänger die Altarstufen vor dem Dom – unter ihnen der Autor, der für dieses Konzert auf Einladung des Domkapellmeisters mal die Seiten gewechselt hatte. Auch er kennt und liebt das „WO“, hat es schon oft gesungen und gehört. Die Neugier war groß: Was würde es wohl für ein Gefühl sein, wenn man in den wunderbaren Chorälen plötzlich Verstärkung von vorne erhält? Auch wenn Bach seine Musik kaum für ein solches „Rudelsingen“ komponiert haben dürfte, klang es doch beeindruckend, die „gläubige Gemeinde“ die im Programmheft abgedruckten vierstimmigen Choralsätze singen zu hören: „Wie soll ich Dich empfangen?“, „Brich an, o schönes Morgenlicht“, „Schaut hin, dort liegt im finstern Stall“ oder das hier fast schon programmatische „Wir singen Dir in Deinem Heer“. Und natürlich ganz besonders „Ich steh‘ an Deiner Krippen hier“ aus der sechsten Kantate: Gerade bei diesem Choral spürte man einen wohligen Schauer – und ja: auch einen kleinen Kloß im Hals.
Die anspruchsvolleren Chöre sang der „kleinere“ Chor: „Drinnen“ hörte es sich recht passabel an – gemessen am Schlussapplaus war es „draußen“ wohl nicht anders. Auch „von hinten“ überzeugte das Domorchester mit einfühlsamem Ton und elegant-vitalem Spiel. Zu den Solisten muss der Kritiker hingegen stillschweigend bedauern, dass er Sabine Götz (Sopran), Ulrike Malotta (Alt), Christian Rathgeber (Tenor) und Harald Martini (Bass) nicht von vorne hören konnte; außerdem hätte es sicherlich seltsam ausgesehen, wenn sich ein Chorist während der Arien dauernd Notizen macht. Die beiden Herren waren auch schon 2015 mit von der Partie und dürften dem Fazit des chorisch „embedded journalist“ zustimmen: 2020 war Bachs „WO“ im Dom ein ganz besonderes Erlebnis.