Weil Corona verhindert, dass in der Schule aktuell gesungen werden darf, ließen sich die Verantwortlichen der Mainzer Dommusik etwas einfallen, um trotzdem eventuellen Chornachwuchs kennenzulernen.
Normalerweise besuchen Domkapellmeister Karsten Storck und seine Mitarbeiter nach den Sommerferien die katholischen Grundschulen in Mainz, um zu schauen, ob es dort Kinder gibt, die gerne singen. Und die ja vielleicht Interesse daran haben, das im Mädchenchor am Dom und St. Quintin oder im Mainzer Domchor zu tun. Normalerweise. Doch was ist in diesen Tagen von Corona schon normal?
Die Schulen wurden trotzdem besucht, auch wenn es da derzeit ein „kleines Problem“ gibt: Singen ist aufgrund des erhöhten möglichen Infektionsrisikos durch Aerosole dort verboten! Eigentlich ist es aber gerade das, worum es Storck geht: „Um ein Instrument, das alle Menschen haben“, erklärt er den Schülerinnen und Schülern: „Die menschliche Stimme!“ Und eigentlich wird dann natürlich auch zusammen gesungen. Wie sonst könnte man hören, ob ein Mädchen oder ein Junge eine schöne Stimme hat? Wo zuhause gesungen wird, fragt Storck und bekommt somit ein erstes, grobes Bild, welche musikalische Vorbildung in den Klassen existiert.
Aber da das Singen ja in diesem Jahr ausfällt, prüfen der Domkapellmeister und seine Kollegen Domkantorin Jutta Hörl und Domkantor Michael Kaltenbach mit ansprechenden Bewegungs- und leichten Rhythmusspielen, ein anderes für das Singen im Chor unerlässliches Talent abzufragen: das Taktgefühl. Und weil auch bei den Kleinsten noch kein Meister vom Himmel gefallen ist, muss man natürlich viel üben, erklärt Storck. Das geschieht in wöchentlichen Chorproben für die Auftritte der Chöre in Gottesdienst und Konzert.
Normalerweise gewinnen die Verantwortlichen in der Musica sacra auf diesem Weg etwa 20 bis 30 neue Mitglieder für den Mädchenchor und dem Domchor – jeweils. Doch diesmal ging man anders vor: Da man die einzelnen Stimmen während der Schulbesuche ja nicht hören konnte, bekamen die Kinder einen Brief mit nach Hause, in denen sie bei Interesse eingeladen wurden, an einem bestimmten Tag ins Chorhaus am Mainzer Dom zu kommen, um dort gemeinsam mit Karsten Storck, Jutta Hörl und Michael Kaltenbach mal zu schauen, wie es denn um ihre Stimme bestellt ist.
Und dieser Tag war jetzt, am 25. September: Wer Interesse hatte, musste sich zuvor im Sekretariat angemeldet haben – schließlich verlangt Corona besondere Planung, um größere Ansammlungen von Menschen (und auch möglichen Domchoristen in spe) zu verhindern. Also wurden Termine vergeben: 22 Mädchen und 16 Jungen hatten Interesse geäußert, so dass bereits ein zweiter Termin im Oktober anvisiert wurde. Der erste, der an diesem Nachmittag ins Chorhaus am Leichhof 26 kommt, ist der achtjährige Leopold, der die Martinusschule im Mainzer Stadtteil Gonsenheim besucht. Begleitet wird der Drittklässler von seinem Vater Nikolas Spehner, der selbst, von 1989 bis 2006 im Domchor gesungen hat und mittlerweile in der Domkantorei St. Martin sein musikalisches Zuhause hat. Trotzdem stellt Karsten Storck den Domchor kurz vor, erzählt vom Vorbereitungskurs, der montags und mittwochs ab 15 Uhr jeweils etwa eine Stunde lang probt. Ein Jahr später, in der vierten Klasse, wird Leopold dann in den großen Chor kommen und eine Probe mehr auf dem Stundenplan stehen haben. An Weihnachten 2021, dem traditionellen Aufnahmetag der neuen Domchoristen, wird das dann sozusagen auch ganz offiziell. Schon vorher stellt der Chor den jüngsten Sängern und Sängerinnen in den jeweiligen Ensembles einen Patin oder eine Patin, also eine(n) ältere(n) Sänger(in) zur Seite, die dem Eleven alles erklärt, was es zu wissen gibt.
In der Chorvorbereitung lernen die Jungs und Mädchen alle Noten kennen, die Notenwerte, Intervalle, also Notensprünge – eben alles, was es zum Chorsingen braucht – kennen. Denn Bassschlüssel kann Leopold übrigens schon lesen, denn zuhause lernt er Klavier. Das Vorsingen verläuft problemlos: In zwei Tonlagen lässt Karsten Storck das Lied „Bruder Jakob singen“, dann ein paar Töne und Tonfolgen auf Silben nachsingen – das kann Leopold natürlich, so dass der Domkapellmeister ihn am Ende nicht nur lobt, sondern auch gleich sagt: „Ich würde mich sehr freuen, wenn Du Mitglied des Domchors werden möchtest.“ Und Leopold? Der will natürlich gerne, denn Storck hat auch von Konzerten erzählt, von Auftritten und Konzertreisen: Wäre Corona nicht, wäre der Dirigent mit 60 Jungs vom Mainzer Domchor während der Herbstferien nach Brasilien geflogen. Papa Nikolas füllt auf jeden Fall den Aufnahmeantrag für Leopold aus. Als Willkommensgeschenk gibt es die Festschrift „150 Jahre Mainzer Domchor“, in der der Achtjährige nicht nur die spannende Geschichte des Knabenchors aufgezeigt bekommt, sondern sicher auch das eine oder andere Foto seines Vaters entdecken kann. Und eine CD vom Domchor gibt’s ebenfalls, damit Leopold mal hört, wie toll der Knabenchor musiziert.
So ging es auch Lotte, Jonna und Marie sowie Leopold, Max und Paul: Von den 22 Mädchen und 16 Jungs haben an diesem Tag jeweils zehn vorgesungen, von denen 16 junge Damen und zwölf Knaben aufgenommen wurden. Normalerweise stellen der Domkapellmeister und seine Domkantoren hohe Ansprüche – auch beim Vorsingen, schließlich spielt der Mainzer Domchor in der Liga der deutschen Knabenchöre auf einem der vorderen Plätze mit. Doch Storck hat die Erfahrung gemacht, dass eine gewisse Durchlässigkeit manchmal Wunder bewirken kann: Einer seiner aktuell besten Bässe ist so ein Fall, der als Knabenstimme unter professionellen Bedingungen womöglich gar nicht genommen worden wäre. Aber auch, einer Stimme Zeit zum Reifen und zur Entwicklung zu geben, ist ja durchaus professionell. Und so freuen sich der Domkapellmeister und seine beiden Domkantoren an diesem Tag, ein paar Jungs und Mädchen für das Singen in den Chören am Mainzer Dom nachhaltig begeistert zu haben. Auch und gerade in Zeiten von Corona ein gutes Zeichen.