Es ist schon faszinierend, wie sehr man eine ganze Gattung, nämlich die der gesungenen Passion, vor allem mit einem Namen in Verbindung bringt: dem Johann Sebastian Bachs. Gleiches gilt für das Weihnachtsoratorium – das dieser notabene ja nie als zusammenhängendes Werk, als das es heutzutage zuweilen aufgeführt wird, konzipiert hatte. Dabei gibt es gerade hier spannende Werke zu entdecken: beispielsweise von Joseph Eybler, Johann Heinrich Rolle oder Georg Philipp Telemann. Womit wir wiederum den Bogen zum Passionskonzert 2021 schlagen, das Corona bedingt in kleinster Besetzung und mit den nötigen Abständen zwischen den Ausführenden zuvor aufzeichnet wurde und beweist, dass eine ergreifende Johannespassion eben nicht zwangsweise von Bach stammen muss. Schon sein erstes Konzert als Domkapellmeister widmete Karsten Storck 2013 einer gesungenen „Passio Secundum Johannem“, damals von Arvo Pärt – diesmal erklingt sie von Alessandro Scarlatti, einem italienischen Zeitgenossen Bachs.
Der Komponist entstammt einer musikalischen Familie. Bereits sein Onkel Vincenzo Amato hatte zwei Passionsmusiken komponiert, die sich größter Beliebtheit erfreuten. Nach einer musikalischen Ausbildung geht Scarlatti mit nur zwölf Jahren 1672 nach Rom, wo er weiteren Unterricht erhält und dank seiner Vernetzung mit künstlerisch und gesellschaftlich einflussreichen Kreisen bereits 1678 zum Kapellmeister in San Giacomo degli Incurabili aufsteigt. Seine erste komische Oper „Gli equivoci nel sembiante“ wird 1678 in Rom uraufgeführt, was ihm bis 1683 auch eine Anstellung als Kapellmeister der in Italien weilenden Königin von Schweden in San Girolamo della Carità einbringt. In gleicher Position wirkt er von 1683 bis 1703 in der Cappella Reale in Neapel, wo er Opern und Oratorien für Rom und Florenz komponiert. Ein Aufenthalt in Rom zwischen 1703 und 1708 führt dazu, dass sich Scarlatti intensiver mit der Kirchenmusik und hier speziell mit der Gattung des Oratoriums beschäftigt; in dieser Zeit entsteht wohl auch seine Vertonung des Johannesevangeliums. 1706 wird der Komponist in Rom von Kardinal Pietro Ottoboni in die Accademia dell’Arcadia berufen und ab 1706 bekleidet er in Neapel den Posten des ersten Kapellmeisters, wo er bis zu seinem Tod 1725 bleibt.
Scarlattis „Passio Secundum Johannem“ ist in zwei Handschriften erhalten: eine findet sich im Archivio die Girolamini, eine andere in der Bibliothek des Conservatorio San Pietro a Majella in Neapel. Der lateinische Text hält sich wörtlich an das Evangelium des Johannes. Hauptfiguren sind der Evangelist, Christus und Pilatus (Altus, Bass und Tenor) sowie die Menschenmenge, wie man sie auch aus dem Turba-Chören bei Bach kennt. Dass die Passionsgeschichte vom Testo, dem Zeugen und Berichterstatter des Geschehens, in deklamierendem Ton erzählt wird, hat seinen Grund in der kirchenmusikalischen Stilentwicklung: Nach dem Konzil von Trient (1545-1563) wandte man sich von der mehrstimmigen Vertonung der Leidensgeschichte Christi ab und einer schlichteren, sich eher an der Evangelien-Lesung orientierenden Erzählweise zu. Die Musik wurde damals zur „Dienerin der Rede“ erklärt und hatte nicht nur deren Inhalt bis ins Letzte wiederzugeben, sondern auch deren Rhythmus nachzuahmen. So sucht man auch betrachtende Arien oder reflektierende Choräle, wie man sie aus den Passionen des deutschen Barocks kennt, vergebens. „Die musikalische Textdarstellung dieser Passion ist mit ihren verschiedenen Stilebenen und den Text abbildenden musikalischen ‚Figuren‘ denjenigen der Rhetorik eng verwandt“, schreibt der Schweizer Musikwissenschaftler Kurt Deggeller und erachtet diese Entsprechung als nicht zufällig: „Die Redekunst durchdrang im Barock nahezu sämtliche Bereiche der Kunst und Wissenschaft und auch der Text der Bibel wurde unter diesem Aspekt betrachtet als willkommener und notwendiger Beweis für die im Grunde göttliche Abstammung der heidnisch-antiken Rhetorik.“
Scarlattis Oratorium ist nicht in einzelne Abschnitte unterteilt, sondern folgt der Passionsgeschichte in einer ununterbrochenen Folge kurzer musikalischer Teile. Hört man zu Beginn nur Streicher, erklingt die Ankündigung der Passionsgeschichte unmittelbar und ausdrucksstark: „Es funktioniert wie ein Schalter, durch den plötzlich Licht voll von Emotion in vollkommener Syntonie [Übereinstimmung] mit dem Bericht des Evangeliums aufleuchtet“, schreibt Luca Della Libera im Booklet-Text einer der beiden [!] Aufnahmen des Werks. Trotz sparsamer kompositorischer Mittel ist die Wirkung der Musik beachtlich: Die deklamierende Erzählung wird durch einen „Stile concitato“ bereichert, einer ästhetischen Kategorie für die dramatisch zugespitzte Darstellung von Handlungen. Dabei erklingen rhetorische Effekte wie etwa die „Circulatio“, eine kreisende melodische Figur, die aus Sechzehntelnoten besteht und zu Beginn beispielsweise das Naturelement des fließenden Wassers darstellt, als Jesus mit seinen Jüngern über Bach Kidron durchquert. Ebenfalls mit Sechzehntelnoten koloriert Scarlatti die Ankunft der Soldaten in Gethsemane. In seiner „Passio Secundum Johannem“ greift der Komponist also durchaus bewusst auf „alte Stile“ zurück.
Dass die „Passio Secundum Johannem“ von Alessandro Scarlatti eine Repertoire-Rarität ist, liegt natürlich auch an der exorbitant anspruchsvollen Rolle des Evangelisten: Kein anderer Solist nimmt derart großen Raum ein. Auch der Aufbau des Werks ist durchaus ungewohnt: Statt eines großen Chors beschließt ein Rezitativ die Darstellung. Ohnehin ist die ganze Passion auf den Erzähler konzentriert. Die einzig vom Basso continuo begleitete Stimme des Evangelisten ist an vielen Stellen als besonders dramatische melismatische Entwicklung auskomponiert, was der schlichten Darstellung eine permanente Spannung verleiht. Bei Scarlatti erklingen einzig die Turba-Chöre, die Einleitung und der Beschluss polyphon. Hinzu treten die Worte Christi sowie kleinere Rollen von Soliloquenten (Pilatus, Magd, Petrus, Judas). Die Worte der Menge werden an allen 14 Stellen von Streichern begleitet, was den Auftritt des wütenden Volks wirkungsvoll illustriert. Dabei fällt auf, dass die Instrumente hier nicht nur colla parte, also die vokalen Register verdoppelnd, spielen, sondern als unabhängige Stimmen agieren und das Timbre dadurch auffallend bereichern. Die melodischen Gesten Christi erklingen stets in absteigender Linie und fast immer schrittweise, worin man den Gang des Heilands hin zum Kreuzeshügel und hinab in den Abgrund des Todes sehen kann. Im Gegensatz zur aufgepeitschten Menge, die Jesu Tod fordert, lässt Scarlatti den Heiland seine Worte stets largo oder dolce singen, womit er auf das Stilmittel der Gravitas zurückgreift, wie Ursula Kirkendale in ihrem Essay „The King of Heaven and the King of France in Music und Meaning“ (Florenz 2007) nachweist: Der Herrschende verliert gegenüber den Ereignissen niemals das Gesicht, sondern strahlt auch im Angesicht des Todes eine geistig überlegene Würde aus.
Diese „Passio Secundum Johannem“ ist also ein dramaturgisch dichtes, durchdachtes und tatsächlich in seiner kontemplativen Anlage auch mitreißendes Werk. Intuitiv erzielt Alessandro Scarlatti an den richtigen Stellen großen Effekt, so dass die Leidensgeschichte Jesu einen hochemotionalen und erschütternden Kosmos des italienischen Barocks abbildet.