Seit der ältesten bekannten Vertonung der katholischen Totenmesse durch Johannes Ockeghem um 1470 hat dieser Topos immer wieder Künstler inspiriert: Wolfgang Amadeus Mozart, Guiseppe Verdi oder Gabriel Fauré. Mit seinem Deutschen Requiem op. 45 löste Johannes Brahms die Requiem-Vertonung aus dem liturgischen Kontext heraus und stellte übersetzte Textpassagen aus dem Alten und Neuen Testament zu einer subjektiven religiösen Perspektive zusammen. Thema dieser Auswahl ist nicht die das Totengedenken bestimmende Trauer, sondern der Trost der Hinterbliebenen. Der Komponist schreibt zu seinem Werk: „Ich habe nur meine Trauer niedergelegt und sie ist mir genommen; ich habe meine Trauermusik vollendet als Seligpreisung der Leidtragenden."
Wie andere Werke des Komponisten benötigte auch das Deutsche Requiem eine längere Reifezeit. Zwei Schicksalsschläge lassen sich hier datieren: 1856 starb Brahms' enger Freund Robert Schumann und neun Jahre später verlor er als 32-Jähriger seine Mutter. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Brahms bereits am ersten und zweiten Satz gearbeitet; jetzt ging er den vierten an und übersandte ihn Clara Schumann mit der Notiz, er plane „eine Art deutsches Requiem" zu komponieren. Aufgrund der intensiven Beziehung zwischen dem Komponisten und der Witwe des Freundes war es Schumann, die 1866 das bis dato sechssätzige Werk als erste zu Gesicht bekam. Nach dem Erhalt der Partitur schrieb sie: „Ich bin ganz und gar erfüllt [...], es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen Menschen in einer Weise, wie wenig anderes. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend."
Das Deutsche Requiem erlebte am 18. Februar 1869 unter Carl Reinecke in Leipzig nach Vorpremieren in Wien und Bremen seine eigentliche Uraufführung. In den folgenden zehn Jahren wurde das Werk rund einhundert Mal in Deutschland aufgeführt, was den künstlerischen Durchbruch Johannes Brahms' manifestierte.
Die einzelnen Sätze sind als deutlicher Bogen auskomponiert, wobei der vierte Satz – „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth" (Psalm 84) – als Scheitelpunkt und tröstender Ruhepol fungiert. Ihn umgeben die zwei Sätze, in denen die Solisten belehrend erklären: Der Bariton intoniert „Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss" (Psalm 39) und der Sopran singt „Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will Euch wieder sehen und Euer Herz soll sich freuen" (Psalm 16), gefolgt vom wunderbar lyrischen „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet" (Jesaja 66).
Diesen Sätzen, dem dritten und dem fünften, stehen wiederum die beiden längsten Partien zur Seite, die den dogmatischen Kern des Werkes bilden: Gedanken über die Sterblichkeit im zweiten – „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras" (1. Petrusbrief 1) – und die Hoffnung auf die Auferstehung im sechsten Satz: „Tod, wo ist Dein Stachel?" (1. Korintherbrief 15). Anfangs erreicht Brahms durch die Wiederholung eine dramatische, wellenartige Spannungssteigerung, deren beklemmender Charakter durch die fanfarenartig intonierten Worte „Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit" (1. Petrus 1) gleichsam gesprengt wird und in die Fuge „Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen" (Jesaja 35) mündet.
Hier kann eine kleine Anekdote geradezu plastisch erhellend wirken: Anlässlich der Wiener Uraufführung schrieb Eduard Hanslick, er fühle wie „ein Passagier, der im Schnellzug einen Tunnel durchrasselt". Die siegessichere Todesbetrachtung im sechsten Satz bildet den dramatischen Höhepunkt des Requiems und in der finalen Fuge entlädt sich die aufgestaute Spannung: „Herr, Du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft" (Offenbarung des Johannes 4).
Sowohl zu Beginn als auch zum Ende des Deutschen Requiems stehen meditative Chöre, die mit dem Wort „Selig" beginnen und in F-Dur stehen. Brahms lässt sein Werk gleichsam aus dem Nichts entstehen: Er verzichtet auf die Violinen und entwickelt den Klang der tiefen Streicherstimmen über lange Orgelpunkte der Hörner, bis die Chorstimmen a cappella einsetzen: „Selig sind, die da Leid tragen" (Matthäus 5). Mit „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an" (Offenbarung des Johannes 14) schließt das Werk: Die Tränen sind versiegt und das liebevolle Gedenken überdeckt tröstend den Schmerz der Trauer. Der Schlusschor erreicht dabei die letzte Auflösung über Es-Dur – eine Aufwärtsbewegung durch die Dunkelheit zum Licht, die im Werkverlauf immer wieder zu hören ist.
Die Redewendung des römischen Dichters Seneca „Per aspera ad astra" – zu Deutsch: durch die Mühe zu den Sternen – zeichnet die kompositorische Entwicklung nach: Die anfängliche Konzentration auf das Leiden wandelt sich spürbar zur Empfindung von Hoffnung und Trost, wodurch Johannes Brahms die Aspekte der christlichen Glaubenstradition mit seinem persönlichen Humanismus musikalisch verbindet. Noch einmal Eduard Hanslick: „Seit Bachs h-moll-Messe [...] ist nichts geschrieben worden, was auf diesem Gebiete sich neben Brahms' Deutsches Requiem zu stellen vermag."
Domkapellmeister Karsten Storck wagt es in diesem Konzert dennoch, wie übrigens sein Kollege Ralf Otto als Leiter des Bachchor Mainz wenige Jahre zuvor in der Christuskirche: Er „ergänzt" das Deutsche Requiem für dieses Konzert durch ein weiteres, erschütterndes Werk, nämlich das Melodram „Ein Überlebender aus Warschau" von Arnold Schönberg.
Das 1947 komponierte Opus 46 gilt als eines der ausdrucksstärksten Musiken Schönbergs und thematisiert die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto im April 1943. Zuvor hatten die Nationalsozialisten ab Juni 1942 mit dem Abtransport der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager begonnen. Schönberg selbst war mosaischen Glaubens, hatte diesen jedoch in seiner Jugend aufgegeben. Nachdem ihm 1933 die Leitung eines Meisterkurses für Komposition an der Preußischen Akademie in Berlin entzogen wurde, bekannte er sich erneut zum Judentum und emigrierte in die USA, wo er zum Professor für Kompositionslehre berufen wurde.
In einer Kritik zur Uraufführung am 4. November 1948 in Albuquerque heißt es: „.Zuerst wurden die Zuhörer von einem hässlichen, brutalen Bläserstoß aufgerüttelt. [...] Die Dissonanz der Harmonien steigerte sich ins Grausame. Der Chor schwoll zu einem einzigen schrecklichen Crescendo an. Dann, nach weniger als zehn Minuten [...] war alles vorbei. Während seine Zuhörer immer noch darüber nachdachten, spielte der Dirigent Kurt Frederick es noch einmal, um dem Stück eine weitere Chance zu geben. Diesmal schien das Publikum es besser zu verstehen und donnernder Applaus erfüllte das Auditorium." René Leibowitz, der unter der Aufsicht des schwerkranken Komponisten die Partitur des „Überlebenden aus Warschau" erstellte, berichtete über die europäische Erstaufführung 1949 in Paris: „Manche kamen zu mir mit Tränen, andere waren so erschüttert, dass sie überhaupt nicht reden konnten."
Das in Zwölfton-Technik komponierte Werk wirkt auf den Hörer verstörend: Ein halbtot geschlagener Bewohner des Ghettos agiert als englischsprachiger Erzähler des grausamen Geschehens. Inmitten dieser Barbarei beginnen die Entrechteten, mit dem „Schma Jisreal" das jüdische Glaubensbekenntnis zu singen. Die Brutalität der nationalsozialistischen Besatzer wird mit aggressiven Blechbläsern und motorischen Rhythmen sowie den deutschen Kommandos eines SS-Manns dargestellt. Dem gegenüber steht das durch die Streicher abgebildete Leiden der Geschundenen. Im scharfen Kontrast erklingt am Schluss das vom Männerchor unisono angestimmte „Schma Jisrael".
Die Rezeption des „Überlebenden aus Warschau" war durchaus indifferent. So schrieb 1956 ein Musikkritiker des „Westfalen-Blatt" von einem „widerwärtigen Stück, das auf jeden anständigen Deutschen wie eine Verhöhnung wirken muss". Der Dirigent Michael Gielen meinte hingegen: „Das wirklich Entsetzliche zu hören macht den Weg frei zum Verstehen, wie die Brüderlichkeit, mehr als die Freiheit oder Gleichheit, hätte sein müssen, damit es nicht zu diesem Horror kommt." Heute findet sich „Ein Überlebender aus Warschau" in den Lehrplänen der Schulen, was die Intension Schönbergs widerspiegelt, nämlich „eine Warnung an alle Juden [...], nie zu vergessen, was uns angetan wurde [...], dass selbst Menschen, die selbst keine Täter waren, diesen zustimmten und viele von ihnen es für notwendig hielten, uns so zu behandeln", wie der Komponist 1948 schrieb. Dass er diese Warnung in Töne fasste, hängt mit Schönbergs Kunstverständnis zusammen, das er bereits 1909 beschrieb: „Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal des Menschen erleben. Die nicht mit ihm sich abfinden, sondern sich mit ihm auseinandersetzen. Die nicht stumpf den Motor ,dunkle Mächte‛ bedienen, sondern sich ins laufende Rad stürzen, um die Konstruktion zu begreifen."
Eine ausführliche Konzertbesprechung finden Sie hier: http://schreibwolff.de/musik/mainzer-domkonzert-brahms-2014