Die Musik Claudio Monteverdis ist wunderbar: vielschichtig, facettenreich, überraschend, klangintensiv, musikalisch und musikantisch. Dabei wurde gerade das zur Zeit ihres Entstehens durchaus in Frage gestellt: 1600, zehn Jahre vor dem Erstdruck der „Vespro della Beata Vergine“, der „Marienvesper“, erschien in Bologna eine Streitschrift, die sich gegen „gewisse Tendenzen“ in der damals neuen Musik richtete. Gemeint war damit Claudio Monteverdi, auch wenn er nicht namentlich genannt wurde.
Diesen wollte der Wortführer auch gar nicht verreißen, monierte jedoch den freien Geist, in dem dessen Madrigale komponiert waren: „Sie sind rau und dem Ohr wenig gefällig. Und sie könnten auch nicht anders sein, denn wenn man die guten Regeln überschreitet, muss man annehmen, dass dann Dinge dabei herauskommen, die der Natur und der Eigentümlichkeit der eigentlichen Musik-Harmonie entartet sind und weit entfernt von der Aufgabe des Musikers zu erfreuen.“
Derjenige, der mit Claudio Monteverdis Musik seinerzeit so scharf ins Gericht ging, war Giovanni Maria Artusi, Priester in Bologna und Schüler des großen Musikgelehrten, Kapellmeisters und Komponisten Gioseffo Zarlino. Akribisch hatte er sich die Madrigale des Kollegen vorgenommen und ihm eine Reihe von Verstößen gegen die Regeln des strengen Kontrapunkts nachgewiesen: zum Beispiel stieß er auf unvorbereitete, frei einsetzende Dissonanzen – damals ein kleiner Skandal!
Claudio Monteverdi stieß sich nicht an dieser Kritik – zunächst. Erst nach neuerlichen Angriffen Artusis gab er im Vorwort zum „Madrigali Libro V“, seinem fünften Madrigalbuch, erläuternde Hinweise zur Musik. Die Kontroverse blieb im Rahmen des Akademischen, keiner der Kontrahenten zeigte sich vom anderen allzu sehr beeindruckt. Allerdings bat der Komponist Papst Paul V., dem er seine „Marienvesper“ widmete, „jene Münder“ zum Schweigen zu bringen, die gegen ihn „ungerechte Äußerungen machen“.
Diese Anekdote nimmt einen mitten hinein in den radikalen stilistischen Umbruch, der zu Lebzeiten Claudio Monteverdis vorherrschte und den dieser maßgeblich mitgestaltete hatte. In den Augen der Wissenschaft brachte er die Musik sogar soweit, „als sie ohne ihn vielleicht in einem halben Jahrhundert nicht fortgerückt wäre“, schrieb 1790 der Komponist und Musiktheoretiker Ernst-Ludwig Gerber.
Zurück zur Kontroverse zwischen Artusi und Monteverdi: Beharrte der eine vor allem auf der strikten Einhaltung der kompositorischen Regeln, die der andere tatsächlich missachtet hatte, argumentierte jener vom Standpunkt der „seconda practica“ aus, der von ihm vertretenen neuen musikalischen Richtung. Diese stand im Gegensatz zur „prima practica“, dem Stil der klassischen Vokalpolyphonie.
Erklärtes Ziel der „seconda practica“ war, dass „die lebendige Sprache Herrin des musikalischen Satzes und nicht dessen Dienerin“ sein sollte. Sprache meinte hier die Wirklichkeit des menschlichen und leidenschaftlichen Ausdrucks in seiner ganzen Vielfalt. Ort der „seconda practica“ war um 1600 die neu entstandene musikalische Gattung der Oper. Monteverdi trachtete danach, den nüchternen „stile narrativo“ der Florentiner Camerata, wo die ersten Opern entstanden waren, in einen „stilo espressivo“, reines Erzählen in ausdrucksvolle Wiedergabe zu steigern – gleich ob im Madrigal, im generalbassbegleiteten Sologesang, in der weltlichen oder geistlichen Polyphonie, der vokalen oder instrumentalen Gattung.
In acht Madrigalbüchern führte Claudio Monteverdi während 51 Jahren alle Entwicklungen und Experimente seiner Tonkunst vor. Im Jahr 1567 in Cremona geboren wurde er an der Kathedrale seiner Heimatstadt musikalisch erzogen und veröffentlichte 15-jährig seine ersten Kompositionen. Als Violaspieler hatte er 1590 am Hof des Herzogs Vincenzo I. Gonzaga in Mantua begonnen und wirkte dort von 1602 bis 1612 als Kapellmeister. Ab 1613 bis zu seinem Tod 1643 war Monteverdi in gleicher Position an San Marco in Venedig tätig. Er gilt vor allem als Meister des Madrigals, schrieb zahlreiche Opern und hinterließ ein vielschichtiges kirchenmusikalisches Œuvre. Das bekannteste und stilistisch reichste sakrale Werk ist die „Vespro della Beata Vergine“, die heute erklingende „Marienvesper“.
Hierin greift der Komponist auf eigentlich sämtliche seinerzeit vorstellbaren Mittel für die musikalische Textgestaltung zurück. Drei Jahre nach seiner berühmten Oper „L’Orfeo“ stellt Claudio Monteverdi seine „Marienvesper“ aus einem Invitatorium, fünf Psalmen, einem Hymnus und einem Magnificat in lateinischer Sprache zusammen. Aber handelt es sich bei dieser Musik tatsächlich um ein geschlossenes Werk, als das es heute Abend erklingt? Oder ist es nicht vielmehr eine lose Sammlung verschiedener geistlicher Kompositionen? Hierfür würden vor allem die stark wechselnde Besetzung zwischen chorischen und solistischen Partien sowie die Beschränkung der instrumentalen Interludien auf wenige Teile der gesamten Vesper sprechen. Auch gilt es nicht als erwiesen, dass die „Marienvesper“ zu Lebzeiten des Komponisten aufgeführt wurde, wenngleich der Dirigent Sir John Eliot Gardiner im Staatsarchiv von Venedig auf Dokumente stieß, aus denen man darauf schließen könnte, dass das Werk im Rahmen der Probezeit Claudio Monteverdis als Kapellmeister an San Marco erklang.
Claudio Monteverdi war zwar nicht der erste, der mit Chromatik und dem Wechsel von Dur und Moll arbeitete. Auch waren weder die Technik der „cori spezzati“, das Gegenüberstellen verschiedener Ensembles und Chöre, noch der bewusste Einsatz von Instrumenten mit spezifischen Spielfiguren und unterschiedlichen Klangfarben etwas wirklich Neues im Venedig des frühen 17. Jahrhunderts. All diese Stilelemente allerdings in einen schlüssigen Zusammenhang gebracht zu haben, wie Claudio Monteverdi es in seiner „Marienvesper“ tat, war vor ihm noch keinem Komponisten gelungen.
Die „Marienvesper“ steht auf der Schwelle von der Renaissance zum Barock und verbindet beide Epochen kunstvoll. Der Titel enthält einen Hinweis auf den liturgischen Charakter des Werkes, das die Hauptpartien der katholischen Vesper beinhaltet, auch wenn diese nicht mir Antiphonen eingeleitet werden. Vielmehr werden die motettisch angelegten Psalmkompositionen durch Solokonzerte flankiert. Nach den Psalmen steht im zweiten Werkteil das Marienlob im Vordergrund.
Dabei spielt die Frage, ob es sich bei diesem Werk originär um liturgische Klänge handelt oder nicht, gar keine so große Rolle: Weltliche wie kirchliche Musik bediente sich damals derselben Mittel. So findet sich im Eröffnungsstück der „Marienvesper“ die Ouvertüren-Fanfare aus „L’Orfeo“ und die Solomotette „Nigra sum“ folgt dem erregten „stile concitato“ der frühen Oper. Als Beispiel für ein Concerto kann das Liebesduett „Pulchra es“ dienen und im dreistimmigen „Duo Seraphim“ führt Claudio Monteverdi in einem schier unerschöpflichen Variantenreichtum die opernhafte Koloraturkunst vor. Im Genre der Pastoraldramen hat das szenisch-musikalische Spiel mit dem Echo seine Heimat und trägt im Concerto „Audi coelum“ ein geistliches Gewand. Gerade hier findet sich auch ein treffliches Beispiel für Tonmalerei: Es erklingt ein abruptes Vokaltutti bei „omnes“ (alle) und der Komponist verwendet ein Wortspiel, indem er das Wort „maria“ (die See) und den Namen der Gottesmutter in unterschiedlichen Betonungen hervorhebt.
Stehen die genannten Beispiele der „Marienvesper“ für die anfangs erwähnte „seconda practica“, kombiniert Claudio Monteverdi in den Psalmvertonungen alte und neue Stilelemente. Basis ist hier stets die gregorianische Melodie. Erstaunlich, in wie vielen Varianten gerade die einfachen Psalmtöne, die ja aus nichts weiter als aus Tonwiederholungen mit Initial- und Schlussfloskeln bestehen, immer wieder in den Satz eingebaut sind: Als Ober-, Mittel- oder Bassstimme, als Themen eines altertümlich imitierenden Satzes, als gliederndes, wiederkehrendes Element oder Form des mehrstimmig gesetzten Rezitierens bestimmen sie das musikalische Geschehen. Nach dem Hymnus „Ave maris stella“ fasst das „Magnificat“ nochmals alle traditionellen und neuen Satztechniken meisterhaft zusammen.