Würde man alle Sänger, die jemals im Mainzer Domchor gesungen haben, nach ihren Erlebnissen dort fragen, nach besonderen Erinnerungen oder danach, welchen Einfluss die Musik auf ihr Leben hatte, würde das sicherlich Bände füllen. Vielleicht aber auch nicht, denn wahrscheinlich kämen die meisten der Befragten zum selben Schluss: Wie großartig die Zeit in diesem Chor war.
Genau so sehen das Günter Zwingert (60) und Daniel Sans (41). Beide haben lange Jahre im Mainzer Domchor mitgewirkt. Jurist Zwingert singt aktuell als dienstältestes Mitglied der Musica Sacra in der Domkantorei St. Martin und war schon bei der 100-Jahr-Feier des Mainzer Domchors als Knabenalt dabei; Sans arbeitet heute als Profisänger und ist im Jubiläumskonzert am 30. Oktober zu hören. Was beide eint, ist die Stimmlage Tenor. Und die Begeisterung, mit der sie sich an die Zeit im Domchor erinnern.
Viele Wege führen nach Rom – und in den Mainzer Domchor: Wurde Zwingert 1965 in der dritten Klasse der heutigen Martinus-Schule in der Mainzer Oberstadt von drei älteren Sängern auf „Werbetour“ angesprochen, war es bei Sans die Lehrerin in der Gonsenheimer Martinus-Schule, der die schöne Stimme des kleinen Daniel im Schulchor auffiel und die ihn entsprechend fördern wollte. „Wenn meine Lehrerin mich damals nicht herausgehört hätte, dann wäre mein Weg sicherlich ein ganz anderer gewesen“, sagt Sans heute. Im seinem Terminkalender für 2016 stehen neben Liederabenden Oratorienkonzerte mit Bachs Weihnachtsoratorium, Mozarts Krönungsmesse oder der neunten Sinfonie von Beethoven. Nicht nur Domkapellmeister Karsten Storck, auch Ralf Otto als Künstlerische Leiter des Bachchor Mainz engagiert Sans gerne.
Professionelle Sänger haben ihre Wurzeln nicht selten in Knabenchören. Doch ist der Mainzer Domchor ein Laienchor – ganz bewusst. Auch Günter Zwingert schätzt das gemeinsame Musizieren mit Gleichgesinnten. Und dass man trotz des Laienstatus‘ ein erstaunlich hohes Niveau erreichen kann, wenn man konzentriert bei der Sache ist: „Man lernt ja so viel und wird dabei auch immer ein Stück professioneller.“ Gerne erinnert er sich an die Zusammenarbeit mit namhaften Solisten, die anfangs oft etwas distanziert waren: „Aber wenn die dann schon in der ersten Probe dem Chor applaudieren, dann ist das eine für Nichtprofis doch eher seltene Erfahrung.“ Jüngstes Beispiel war das Konzert mit Krzysztof Penderecki, einem der wichtigsten Komponisten der Moderne, aus dessen Lukas-Passion man im März des Jahres Teile aufführte.
Beide Ehemaligen schwärmen natürlich von den vielen Chorreisen, durch die sie schon in jungen Jahren viel von der Welt sehen konnten. Ihre Heimat war jedoch immer der Dom – bis heute: Günter Zwingert singt seit mehr als 50 Jahren fast ununterbrochen in den Chören der Musica Sacra und Sans betont: „Die elf Jahre im Domchor haben ein sehr enges Band und eine intensive, musikalische Bindung geschaffen.“ Das gilt auch für die eigene Persönlichkeit: „Im Domchor wurde ich ernst genommen und bekam viel zugetraut.“ Dadurch entwickele sich natürlich auch ein ganz anderes Selbstbewusstsein: „Man lernt, pünktlich und zuverlässig – kurz: diszipliniert zu sein.“ Und übernimmt Verantwortung füreinander: „Durch das gemeinsame Singen und wenn man merkte, wie schön es ist, miteinander zu musizieren, wurde man auch als Jüngerer von den Älteren akzeptiert und respektiert. Das ist auch heute noch so“, sagt Zwingert.
Für ihn hat diese Gruppenzugehörigkeit, das Einfügen in ein soziales Netzwerk und das Arbeiten auf ein gemeinsames Ziel hin eine große Bedeutung – so groß, dass er, als es ihn von 1989 bis 1993 beruflich nach Erfurt verschlug, regelmäßig zu den Proben, Gottesdiensten und Konzerten nach Mainz fuhr. Von 1965 bis 1972 war Zwingert Knabenstimme und bis 1993 Männerstimme des Domchors; seitdem singt er in der Domkantorei. Pausiert hat Zwingert nur drei Monate lang: während seines Stimmbruchs.
Als Daniel Sans‘ Zeit als Knabenstimme vorbei war, brach für ihn erst mal eine Welt zusammen. Er lernte Querflöte und Klavier, vermisste jedoch bald die Gemeinschaft, die Konzerte und auch die Gottesdienste. Damals war es Domkapellmeister Mathias Breitschaft, der ihn zur Seite nahm und anbot, als Jungstudent bei ihm das Chordirigieren zu erlernen – eine intensive Ausbildung neben der Schule, die ihn vom Peter-Cornelius-Konservatorium an die Hochschulen für Musik in Mainz und Frankfurt führte, wo er dann auch Gesang studierte. Was Sans ebenfalls befolgte, war der Rat seines Chorleiters, nicht allein auf eine Karriere als Solist zu setzen: Bis heute dirigiert der Tenor auch Vokalensembles.
Natürlich erinnern sich beide daran, dass das Singen in der Musica Sacra mit großem Zeitaufwand verbunden war und ist. Was jedoch von keinem als störend empfunden wurde: „Wenn es in der Schule einmal nicht so gut lief oder ich andere Probleme hatte und in die Probe kam, um anderthalb Stunden diese wunderschöne Musik zu singen, dann war ich wie neu, positiv aufgeladen“, erinnert sich Sans. Und auch für Günter Zwingert ist das Singen vielleicht zeitintensiv, aber auf keinen Fall -raubend: „Ich habe im Domchor unglaublich viel gelernt: Meine Stimme wurde geschult, ich erlernte das Notenlesen und kann heute gut vom Blatt singen.“ Nur zu gerne stellt er diese Talente in den Dienst der gemeinsamen, musikalischen Sache, denn schon als Knabe war ihm bewusst, dass er es war, der mit den anderen Jungs den Gottesdienst im Dom musikalisch ausschmückte: „Das war und ist unsere wichtigste Aufgabe.“