Wer singen will, sollte eine schöne, gesunde Stimme haben und dieses Organ auch richtig einzusetzen verstehen. Das eine ist Voraussetzung dafür, in den Chören am Mainzer Dom mitsingen zu können; das andere lernt, vertieft und pflegt man hier: in der gemeinsamen Probenarbeit, individueller Stimmbildung und natürlich mit den vielen Konzerten. Doch ist ein Sinnesorgan mindestens genauso wichtig wie die Stimme: das Ohr.
Der Mensch kann mit fünf Sinnen empfinden: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Das Auge ist das wichtigste Sinnesorgan, denn kein anderes Medium vermittelt uns eine solche Informationsfülle wie das Licht. Durch Fühlen und Ertasten wird der Raum um uns herum wahrnehmbar, Geschmack und Geruch sind unsere chemischen Sinne. Das Gehör schließlich nimmt vielfältige Reize auf – in Form von Geräuschen und Tönen, Sprache und Musik. Die Sinnesorgane nennt die Wissenschaft daher auch „unsere Fenster zur Welt“, denn nur durch sie macht der Mensch seine Erfahrungen. Jede Sekunde nehmen wir über unsere Sinnesorgane viele Millionen Informationen auf, die als visuelle Signale, akustische Botschaften oder olfaktorische wie haptische Reize Impulse an unser Gehirn weitergeleitet und dort in Eindrücke und Empfindungen übersetzt werden.
Natürlich ist auch der Sehsinn für den Chorsänger äußerst wichtig: Mit dem Auge studiert er das Notenbild und kann Gestik und Mimik des Dirigenten wahrnehmen – wenn er denn hinschaut. Doch auch ein blinder Mensch kann singen. Unabdingbar hierfür ist jedoch das Gehör. Zwar schrieb ein Ludwig van Beethoven noch seine Musik, als er vollkommen ertaubt war. Doch ein Chorist ist darauf angewiesen das zu hören, was um ihn herum und in den anderen Stimmen passiert.
Ständig nimmt der Mensch Geräusche wahr. Stille ist für ihn etwas Ungewohntes. Und überhaupt: Gibt es die absolute Stille oder nehmen wir nicht ständig Geräusche wahr? Und wenn es nur die des eigenen Körpers sind: das Ein- und Ausatmen etwa, ein Zungenschnalzen oder Kratzgeräusch. Wenn das menschliche Gehör empfindlicher wäre, könnte man sogar ein ständiges Rauschen wahrnehmen, das durch die Eigenbewegungen der Luftmoleküle entsteht. Insekten wie die Springspinne beispielsweise kommunizieren über Schwingungen, die sie über feine Härchen aufnehmen können und die man in wissenschaftlichen Experimenten für den Menschen als feines Trommeln hörbar gemacht hat.
Doch auch das, was das menschliche Ohr hören kann, vermittelt ihm nicht nur Informationen, sondern auch Emotionen. Dies gilt besonders für die beiden Medien Wort und Musik. Letztere kann Gefühle auslösen oder Identität und Zusammenhalt einer Gruppe stärken. Lernt der Mensch ein Instrument, so verbindet sein Gehirn Nervenfasern für Bewegung und Hören. Dabei ist der Mensch fast das einzige Lebewesen, das sich zu Musik rhythmisch bewegen kann.
Der Gebrauch der Sinne ist für Mensch wie Tier schlicht überlebenswichtig: Nur wer sich in der Welt orientieren kann, ist in der Lage Nahrungsquellen aufzutun, sich gegen Feinde zu wehren und damit die Grundlage zu schaffen um Nachwuchs zu zeugen. So datiert die Wissenschaft den Ursprung der Sinne in der Urzeit: Schon Bakterien konnten chemische Substanzen orten und die ersten Vielzeller waren in der Lage, Schall und Licht wahrzunehmen.
Das ungeborene Baby vernimmt das Gluckern und Gurgeln des Fruchtwassers, das Klopfen des Herzens, das Rauschen des Blutes und des Atems. Im letzten Drittel einer Schwangerschaft erkennt der Fötus außerdem die Stimme seiner Mutter, die von ihrem Kopf über die Wirbelsäule hinab tönt und von den Beckenknochen wie durch zwei vibrierende Lautsprecher verstärkt wird. Durch die Bauchdecke der Mutter erreichen das Kind vor allem tiefe Töne. Studien zeigen auf, dass Babys am liebsten jene Melodien hören, die ihre Mutter vor der Geburt gehört oder gesungen hat. (Wer einen Sohn erwartet und ihn später in die Chöre am Dom schicken möchte, tut also gut daran, Bach-Motetten und Schütz-Psalmen zu hören...)
Wann und wie sich wohl der Hörsinn entwickelt hat? Bei einem neugeborenen Menschen ist das eine spannende Angelegenheit: Säuglinge meiden laute Töne, wenden den Kopf von der Geräuschquelle ab; zu leisen Lauten fühlen sie sich jedoch hingezogen. Im Alter von etwa sieben Monaten sind die Sinnesorgane eines Babys so weit entwickelt, dass ihre Wahrnehmung sogar die von Erwachsenen übertrifft.
Wer im Kindesalter ein Instrument erlernt, entwickelt ein besonders geschultes Gehör: Das Hörzentrum im Gehirn vergrößert sich und versetzt den Menschen somit in die Lage, falsche oder unsaubere Töne zu erkennen. Messungen bei Sechsjährigen ergaben nach 15 Monaten Klavierunterricht einen Zuwachs der Hirnmasse nicht nur im Bereich des Hörzentrums, sondern auch in den für die Fingerfertigkeit zuständigen Arealen. Außerdem, so beweisen Forschungsergebnisse, haben Musiker oft ein besseres Ohr für Feinheiten auch der sprachlichen Intonation.
Doch hört das Ohr ja erst mal keine Musik, denn ein großer Teil unserer Wahrnehmung beruht auf Schwingungen: Schallwellen, von denen unsere Umgebung erfüllt ist – auch durch uns selbst, durch Sprechen, Laufen, Kauen oder Schlucken. Doch bevor wir den Ton oder das Geräusch hören, legt der Schall eine ziemliche Wegstrecke in unserem Ohr zurück: Via Gehörgang erreichen die Vibrationen zuerst das Trommelfell, das die Schwingungen auf winzige und bewegliche Knöchelchen überträgt, die sie in ein schneckenförmiges Gebilde weitersenden. Dort verwandeln sich die mechanischen Reize in Nervenimpulse und es entsteht der neuronale Code, den das Gehirn auswertet und in akustische Empfindungen umwandelt. Zeitgleich verbindet das Gehirn die Höreindrücke mit visuellen, haptischen und olfaktorischen Impressionen zu einem umfassenden Sinneserlebnis. So speichert das Denkorgan rund 340.000 typische akustische Muster, wodurch es lernt, Töne und Geräusche zu unterscheiden sowie einzuordnen.
Beeindruckend sind auch folgende Zahlen: So reicht ein 100-Billionstel Meter (=0,0000001 mm) Bewegung eines Sinneshaares im Ohr aus, damit die entsprechende Hörsinnzelle auf einen akustischen Reiz reagiert. Von diesen mikroskopisch kleinen Sinneshaaren sind im menschlichen Ohr etwa 3.500 für die Erkennung der Tonhöhe verantwortlich. 1.300 hiervon kann der Mensch unterscheiden. Wenn er den Kammerton a hört, schwingt das menschliche Trommelfell 440 Mal in der Sekunde. Und vor rund 35.000 Jahren fertigte der Homo sapiens während der letzten Eiszeit das erste Instrument: eine Flöte.
Die Musik oder besser: die Sehnsucht nach Wohlklang war ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Menschheit, denn erstmals widmeten sich unsere Vorfahren etwas scheinbar Sinnlosem, das nicht nur der Nahrungsaufnahme, Feindesabwehr oder Fortpflanzung diente. Die Musik ermöglichte es dem Menschen, ein stabiles soziales Netz zu knüpfen, denn durch dieses „Erzeugen schöner Töne und Melodien“ konnte der Gemeinsinn der Sippe gestärkt werden. Als Beleg für diese These kann die Tatsache angeführt werden, dass in so gut wie allen Naturvölkern in der Gruppe musiziert wird. Und auch in der modernen Gesellschaft wird Einigkeit durch Musik beschworen: in der Kirche oder in der Fußballarena etwa.
Natürlich stehen vor allem Sänger, Instrumentalisten und Dirigenten der Musik äußerst nah. Doch nicht nur sie! Musik ist allgegenwärtig – und das nicht nur in Form von komplexen Kompositionen wie eine Bach-Fuge, an der man sich ergötzen kann: Musik umweht uns ständig, kommt aus Boxen und den Kopfhöreren von mp3-Player oder i-Pod. Wir lauschen der Musik im Konzert, singen ein Baby in den Schlaf, tanzen zu rhythmischen Klängen, lassen uns beim Sport oder Autofahren von Musik begleiten, werden in Fahrstühlen und beim Einkaufen, in Bars und Kneipen berieselt.
Der Mensch reagiert auf Musik: Erreichen viele differente Frequenzen unser Gehirn über das Ohr, werden sie dort als Geräusch, Ton oder eben Musik aufgelöst. Dabei werden zwischen den Tönen Beziehungen hergestellt: Wir verbinden ganz unbewusst bereits zuvor und momentan gehörte Töne, vergleichen sie und fügen sie zusammen. So entsteht der Eindruck einer Tonfolge. Was als Schwingung in der Luft beginnt, wird erst in unserem Kopf zum Klang.
Musik gehört also zum Sein des Menschen – gleich in welcher Form. So erkannte bereits der Evolutionsforscher Charles Darwin 1871: „Da dem Menschen weder das Vergnügen an der Erzeugung musikalischer Töne noch die Fähigkeit zur Erzeugung von geringstem Nutzen sind, müssen sie den geheimnisvollen Eigenschaften zugerechnet werden, mit denen er begabt ist.“
Doch Musik kann mehr: Sie ist in der Lage, die Stimmungen der Menschen, eigene und auch die anderer zu beeinflussen und zu verändern. Musik kann anregen und beruhigen, fröhlich und traurig machen, Angst einflößen und Mut machen. Hierfür gibt es zwei Erklärungen – eine psychologische und eine physiologische: Zum einen erschafft Musik einen imaginären Raum, in dem die zuweilen chaotische Realität in beruhigend geordnete Bahnen geleitet wird. Zum anderen wirken melodische Klänge direkt auf das limbische System ein: Diese Hirnregion ist maßgeblich daran beteiligt, ob und wie wir Freude, Trauer, Wut oder Glück empfinden.
Ihre entspannende Wirkung gewinnt Musik aus der Fähigkeit des „Belohnungszentrums“ im menschlichen Gehirn, beim Hören von schönen Klängen in der Stirnregion Stoffe aus der Blutbahn zu filtern, die uns stressen und in Hektik versetzen. Die ausgeschütteten Glückshormone verändern dabei unser Bewusstsein. Auch weniger angenehme Empfindungen wie beispielsweise Traurigkeit können wir dabei dennoch mit Genuss wahrnehmen, haben sie doch keinen realen, schmerzlichen Auslöser. Mit (Wohl-) Klang, Tönen, Sprache und Gesang kann der Mensch also viel ausrichten, sich selbst und einen Teil seiner Welt wahrnehmen sowie anderen hierzu verhelfen. Einen interessanten Aspekt entdeckte hierbei der Psychologe Marcel Zentner von der Universität Genf: Er erforschte, dass selbst derjenige, der in deprimierter Stimmung traurige Musik höre, eine positive Emotionalität erlebe.
Übrigens: Noch etwas kann das Ohr, denn in ihm befindet sich sozusagen ein Detektor, der es uns ermöglicht, das Gleichgewicht zu halten. Dicht hinter dem Trommelfell sitzt der Vestibulat-Apparat, ein Organ von der Größe einer Erbse. Es verfügt über mit Flüssigkeit gefüllte Kammern und schlauchartige Strukturen, in denen sich mit vielen Haarsinneszellen gefüllte Gelkissen befinden. Sie reagieren hochsensibel auf jede Bewegung: Wenn der Körper eine Beschleunigung erfährt, beispielsweise während eines Sprints, oder sich um die eigene Achse dreht, senden die Sinneszellen entsprechende Informationen an das Gehirn. Unbewusst und automatisch reagiert es und sendet seinerseits Befehle an die Muskulatur, um eine etwaige Schieflage des Körpers auszugeichen.
Als Quelle für diesen Artikel dienten u.a. Beiträge des Wissens-Magazins „GEOkompakt – Unsere Sinne: Wie wir die Welt wahrnehmen“ (Nr. 36, 2013)
[Bild: The Edison Phonograph, 1905/Wikipedia]