Wolfgang Amadeus Mozart und Felix Mendelssohn Bartholdy eint die Verehrung barocker Meister als Vorbilder: Mozart bearbeitete den berühmten „Messiah“ von Georg Friedrich Händel in deutscher Sprache und Mendelssohn sorgte mit seiner Wiederaufführung der Bachschen Matthäuspassion dafür, dass die Musik des Thomaskantors neu entdeckt und vor dem Vergessen bewahrt wurde. Auch Händel wurde von ihm geschätzt, was Bearbeitungen des „Dettinger Te Deums“ oder des Oratoriums „Israel in Egypt“ dokumentieren. Das d-Moll-Requiem ist neben dem „Ave verum“, der „Krönungsmesse“ und der großen Messe in c-Moll sicherlich das bekannteste Chorwerk Mozarts, während das umfangreiche vokale Schaffen Mendelssohns vor allem mit seinen Psalm-Vertonungen (und hier vor allem den a cappella gesungenen wie „Jauchzet dem Herrn“ oder „Richte mich Gott“ sowie dem aus dem Oratorium „Elias“ stammenden „Denn er hat seinen Engeln“) verbunden wird.
Neben acht Choral-Kantaten hat Mendelssohn auch fünf Psalm-Kantaten komponiert, in denen Solisten und Chor orchesterbegleitet die Verse der alttestamentarischen Texte intonieren. Diese waren dem jungen Komponisten Zeit Lebens stete Inspirationsquelle. Psalm 42 – die Opus-Zahl ist zufälligerweise identisch – entstand in Teilen während der Hochzeitsreise von Felix Mendelssohn und seiner Frau Cécile Jeanrenaud, die das Paar nach der Hochzeit am 28. März 1837 ins Elsass und den Schwarzwald führte. Eine erste Fassung von Opus 42 wurde am 1. Januar 1838 im Leipziger Gewandhaus aufgeführt. Diese Psalm-Kantate gehört zu den zu Lebzeiten des Komponisten am häufigsten musizierten und stellte nicht nur laut Robert Schumann „die höchste Stufe, die er [Mendelssohn] als Kirchenkomponist, ja die die neuere Kirchenmusik überhaupt erreicht hat“ dar – auch ihr Schöpfer selbst war mit dem Werk durchaus zufrieden.
„Mendelssohn als Komponist geistlicher Vokalmusik bietet geradezu alles, was ihn für die Praxis brauchbar, sangbar und ‚dankbar‘ […] macht“, heißt es im Vorwort der im Carus-Verlag erschienenen Partitur. Hier wird auch der große formale und musikalische Reichtum gerade dieser Komposition hervorgehoben: Der Psalm beginnt mit einer ansprechenden Kombination des lyrisch schwingenden Orchesters und einer ausdrucksvollen Chorpartie, die das poetische Motiv des dürstenden Hirsches als Sinnbild der nach Gott verlangenden Seele abbildet. Das folgende Sopransolo ist gegliedert in ein Arioso mit obligater Solo-Oboe sowie ein Rezitativ und ein weiteres Arioso, in das die Frauenstimmen des Chores einstimmen: „Sehnsucht, Zweifel – und Streben nach dem ‚Hause Gottes‘ finden in dieser klug disponierten Satzfolge eine unmittelbar ergreifende und emotional nachvollziehbare musikalische Gestaltung“, schreibt der Musikwissenschaftler Thomas Kohlhase. Der folgende Satz wird anschließend unsiono von den Männerstimmen intoniert und stellt mit den Worten „Was betrübst Du Dich, meine Seele?“ gleichsam eine rhetorische Frage, die mit der Aufforderung „Harre auf Gott“, worein auch Sopran und Alt einstimmen, beantwortet wird. Auffallend ist die Kürze dieser Partie, was durchaus als Statement des Komponisten verstanden werden darf. Die ängstliche Seele ist jedoch noch nicht überzeugt: Mendelssohn malt laut Kohlhase „mit seiner instrumentalen Figuration die ‚Wasserwogen und Wellen‘, die über den Psalm-Sänger hinwegtoben, ein Bild für seine Verlassenheit fern von Gott“. Als Kontrast hierzu erscheint das Solistenquartett mit den Männerstimmen, das von Milde und Gottvertrauen erzählt, wobei der Sopran über dem Quartett immer wieder seine Klage der Gottesferne anstimmt, versinnbildlicht durch das Wogen-Motiv, das das Orchester aus dem vorangehenden Satz übernimmt. Nach derart „fein gesponnenen gedanklichen und musikalischen Zusammenhängen“ (Kohlhase) erklingt die machtvolle, von zwei homophonen Chorblöcken eingeleitete Schlussfuge des Gotteslobs „Preis sei dem Herrn, dem Gott Israels, von nun an bis in Ewigkeit“ – Worte, die Mendelssohn dem fast vollständig vertonten Psalm hinzugefügt hat.
Ganz anders als die Entstehung dieser Musik liegt die von Mozarts Requiem im Dunkeln. Es ist das letzte Werk des Komponisten, der darüber am 5. Dezember 1791 verstarb. Um Mozarts Tod rankten sich bald schon Gerüchte und Legenden: War es ein Giftmord, gar von neidischen Kollegen initiiert? Waren amouröse Abenteuer vorangegangen oder gab es Verschwörungen der Freimaurer? Nichts davon basiert auf Fakten, doch jenen „grauen Boten“, der Mozart den Kompositionsauftrag für sein Requiem überbrachte und der nun wirklich dem Reich der Fantasie entsprungen zu sein scheint, den gab es: Geschickt hatte ihn Franz Graf von Walsegg, der für seine verstorbene Gattin eine Trauermusik bestellte. Fakt ist auch, dass Mozarts Witwe Constanze unversorgt zurückblieb und auf die Zahlung der zweiten Hälfte des Honorars durch den Grafen unbedingt angewiesen war. Daher bemühte sie sich inständig um eine Vollendung des angefangenen Werkes.
Nachdem mehrere Musiker, darunter Mozarts Schüler Joseph Eybler, an der Aufgabe gescheitert waren, erklärte sich Franz Xaver Süßmayr, ein anderer Schüler des Komponisten, schließlich bereit, den Rumpf zu vervollständigen. An den Verlag Breitkopf & Härtel schrieb er neun Jahre nach Mozarts Tod: „Endlich kam dieses Geschäft an mich, weil man wusste, dass ich noch bei Lebzeiten Mozarts die schon in Musik gesetzten Stücke öfters mit ihm durchgespielt und gesungen, dass er sich mit mir über die Ausarbeitung dieses Werkes sehr oft besprochen und mir den Gang und die Gründe seiner Instrumentierung mitgeteilt hatte.“ Aus Mozarts Feder stammen nur der Introitus sowie für weitere Werkteile Gesangsstimmen und eine Basspartie sowie Hinweise auf einzelne instrumentale Motive. Dennoch gilt dieses Werk als sein Opus Magnum, stellt es doch laut Komponist Markus Schönewolf „eine Synthese aus Kirchenmusikalischem, opernhaft Dramatischem, barocker Gelehrtheit und galantem Stil dar“.
Wir groß nun der Anteil Süßmayrs am Requiem ist, darüber streiten sich die Gelehrten seit mehr als 200 Jahren. Auch andere Komponistengenerationen nach ihm machten sich an eine Rekonstruktion, doch der Mozart-Forscher Christoph Wolff plädiert für die heute gängige „Süßmayr-Fassung“. In seinen Ausführungen über das Requiem verteidigt er den Mozart-Schüler gegen seine Kritiker, die ihm Fehler und satztechnische Ungereimtheiten nachwiesen: „Einzig diese Partitur vertritt und beschließt in sich die ureigene musikalische Wahrheit des unvollendeten Werkes. In dem oftmals groben Gegenüber und dem brüchigen Miteinander von Fertigem und Unfertigem zieht sie uns gleichsam magisch hinein in die Situation um die Jahreswende 1791/92: in eine bedrückende Atmosphäre, in der man im engsten Mozart-Kreis angesichts des unfertigen Requiems und darüber hinaus mit einem überwältigenden musikalischen Vermächtnis fertig werden musste – in dem deutlichen Bewusstsein, dies nicht eigentlich zu können.“
Mozarts Requiem und Mendelssohns Psalm 42 eint jene Spannung zwischen Hoffnung und Verzweiflung – gefühlte Gottesferne und Verlassenheit auf der einen und tief empfundene Geborgenheit auf der anderen Seite. In Mozarts letztem Werk spiegeln sich das Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit und der unausweichliche Tod. Drei Jahre vor seinem eigenen Ableben hatte der Komponist an seinen Vater geschrieben: „[…] da der Tod, genau zu nehmen, der wahre Endzweck unseres Lebens ist, so habe ich mich seit ein paar Jahren mit diesem wahren, besten Freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sonders recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem Gott, daß er mir das Glück gegönnt hat mir die Gelegenheit […] zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen.“ In diesem Bewusstsein schrieb Mozart keine hellen, himmlischen Klänge, vertonte also keine jenseitige Schönheit, sondern schuf dunkle, sanfte Töne als Kaleidoskop menschlicher Empathie im Angesicht des göttlichen Gesetzes: eine diesseitige, irdische Klangwelt für den Menschen, der sterben muss – und den, der einen Verstorbenen betrauert.