Das Requiem von Guiseppe Verdi (11/2018)

Als man Guiseppe Verdi nach einer Aufführung seiner Oper „Falstaff“ in Rom hochleben ließ und ihn als den größten lebenden Komponisten feierte, wehrte er ab: „No, no lasci andare il gran musicista, io sono uomo di teatro!“ – zu Deutsch: „Nein, nein, lassen Sie den großen Komponisten beiseite, ich bin ein Mann des Theaters!“

Das war keine falsche Bescheidenheit, sondern tiefste Überzeugung des am 10. Oktober 1813 in Le Roncole bei Busseto in der Region Parma geborenen und in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsenen Verdi ob der Art seines Komponierens. Als Ergebnis einer lebenslangen Suche nach der eigenen künstlerischen Aufgabe kam er zum musikalischen Theater. Nach Gioachino Rossini, Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti erfüllte Verdi die italienische Oper mit neuem Leben und schuf eine Musik aus dem Geist des Theaters, um mit der Überzeugungskraft der Musik etwaige Utopien des Librettos plausibel erscheinen zu lassen. Über eine unrealistische Sterbeszene aus seiner nicht realisierten Oper „L’Assedio di Firenze“ schrieb Verdi: „Es kommt einzig darauf an, ob die Szene wirksam wird. Wenn das gelingt, werden wir auch einen Weg finden, sie logisch zu machen.“

Auch in seiner Missa pro defunctis, die als Begräbnis-Liturgie der Katholischen Kirche zahlreiche Komponisten zu großen Werken inspirierte, geht Verdi den Weg des Theaters, was sein Requiem zu einer „Oper im kirchlichen Ornat“ macht: „Während es in seinen Opern um politische Intrigen und weltliche Schicksalsschläge geht, steht im Requiem das Individuum dem Absoluten in Gestalt des Todes gegenüber. Die Folge ist eine Radikalisierung der künstlerischen Mittel“, schreibt der Musikwissenschaftler Max Nyffeler: „Mit großem dramatischen Impetus wird der Bogen geschlagen vom Schrecken und der Hoffnungslosigkeit des Jüngsten Gerichts im ‚Dies irae‘ bis zum Trost im ‚Requiem aeternam dona eis‘ mit der anschließenden ätherischen Vision des ‚Lux aeterna‘. Ganz zum Schluss fügt Verdi, in Abweichung von der liturgischen Konvention, noch das ‚Libera me‘ an, das mit seiner inbrünstigen Bitte um Errettung vor dem ewigen Tod und der grandiosen Chorfuge wie eine Zusammenfassung des ganzen vorherigen Geschehens wirkt.“

Die Entstehung des Requiems gründet im Tod eines anderen Komponisten: Am 13. November 1869 verstarb mit Gioachino Rossini der Schöpfer so bekannter Werke wie der Oper „Der Barbier von Sevilla“, des „Stabat mater“ oder der „Petite Messe solennelle“. Um seiner zu gedenken, bat Verdi die seinerzeit berühmtesten Tonsetzer Italiens, jeweils einen Satz für eine gemeinsame Komposition zu schreiben, wobei er selbst die Vertonung des Schlusssatzes „Libera me“ übernehmen wollte. Das Werk sollte am ersten Todestag Rossinis in Bologna aufgeführt werden, was allerdings an einem Streit um den Dirigenten scheiterte. Die fertige „Messa per Rossini“ verschwand in den Archiven und galt lange Zeit als verschollen, bis sie 1970 wiederentdeckt 18 Jahre später in Stuttgart uraufgeführt wurde.

Guiseppe Verdi war ein vom Schicksal hart geprüfter Mann: 1836 hatte er mit Margherita Barezzi die Tochter seines Mäzens Antonio Barezzi geheiratet; ihre zwei Kinder starben jeweils kurz nach der Geburt und 1840 machte der Tod seiner Frau Verdi mit nur 27 Jahren zum Witwer. Die Erinnerung an diese Lebenskatastrophe setzte sich im Innersten des Künstlers fest und späteren Todesfällen im Freundes- und Bekanntenkreis begegnete Verdi mit tief empfundener Anteilnahme. Das Sujet von Tod und Sterben führte ihn schließlich in späten Jahren zur Kirchenmusik, wobei er anfangs meinte: „Totenmessen gibt es so viele! Es ist unnütz, ihnen noch eine hinzuzufügen“. Dennoch ließ ihn der Gedanke an eine selbst komponierte Missa pro defunctis nicht los und als 1873 der Dichter Alessandro Manzoni starb, widmete Verdi dem von ihm zutiefst verehrten Poeten posthum eine Messe, die ein Jahr nach dem Tod Manzonis in Mailand aufgeführt werden sollte. So wurde das „Libera me“ der „Messa per Rossini“ zur Keimzelle der eigenen Missa pro defunctis. Text und Ablauf des Werks folgen fast ohne Unterbrechung der römisch-katholischen Liturgie des Totengottesdienstes; Verdi verzichtete einzig auf die Vertonung von Graduale und Tractus und fügte das Responsorium hinzu. Doch wie Rossini in seiner „Petite Messe solennelle“ sein Faible für die Oper nicht leugnete, scheint auch Verdi sein Requiem wie für die Bühne geschrieben zu haben.

Der Komponist lehnte sich mit seinem Requiem gleichsam gegen den Tod auf – eine Geste, die sich auch in seinem Gesamtwerk findet: „In allen seinen Opern sind Leben und Tod gleichermaßen präsent – doch immer geprägt vom italienischen Volkscharakter, in dem sich die gegensätzliche Elemente vereinen“, schreibt der Dirigent Riccardo Muti in seinem Buch „Mein Verdi“. Bei aller Lebensbejahung der Musik ist der Tod also allgegenwärtig und der zuversichtliche Tonfall wandelt stets am Abgrund der Angst: Die Wiederholung der laut Philosoph Ernst Bloch „bodenlos stürzenden Schreie“ des „Dies irae“-Chores widerspricht eigentlich der Liturgie und in der Mezzosopran-Arie „Liber scriptus proferetur“ bedient sich Verdi des „Todesrhythmus“ und der „Todestonart“ d-Moll aus Mozarts „Don Giovanni“. Versöhnung hält hingegen das „Offertorium“ bereit, das Verdi als Trost für die Lebenden geschrieben hat: Hell und durchscheinend ist der Orchesterklang, zu dem das Solistenquartett über die Transzendierung alles Irdischen erzählt. Der Sieg des Lichts über die Finsternis ist hier konkret greifbar und findet in einem überirdisch schönen Sopransolo seinen Ausdruck. Das beschwingte „Sanctus“ und „Benedictus“ leiten zum gregorianisch anmutenden „Agnus Dei“ über und das finale „Libera me“ schließt das Werk mit der Bitte um Errettung und ewigen Frieden.

Das Requiem löste sich bald nach seiner Uraufführung am 22. Mai 1874 in der Mailänder Kirche San Marco aus dem liturgischen Kontext: „Diese Säkularisierung […] hat ihren Grund nicht zuletzt […] in der kirchenkritischen Haltung des Komponisten“, schreibt Max Nyffeler, betont jedoch: „An der christlichen Grundhaltung des von einer tiefen Gläubigkeit erfüllten Werkes ändert sich damit freilich nichts.“ Der Konzertdramaturg Friedrich Sprondel erklärt außerdem die Kritik, die seinerzeit die „opernhafte Ausdrucksform“ begleitete: „Bei liturgischen Messen durften in Italien zur Zeit der Uraufführung noch keine Frauen mitwirken. So musste Verdis Requiem bei der Uraufführung […] ausdrücklich im Rahmen eines Konzerts musiziert werden. In Paris wurde bei den ersten Aufführungen die Bühne der Opéra Comique gar mit einem Bühnenbild ausstaffiert.“

Doch egal ob Oper oder Sakralmusik: Verdi ging es um die Darstellung des Menschen, der im Requiem zwischen den Schrecken des Jüngsten Gerichts und der Bitte um Errettung durch Gott gleichsam gefangen ist: „Die Wirklichkeit zu kopieren ist eine gute Sache“, schrieb er 1876: „Aber die Wirklichkeit zu erfinden ist besser.“ Und die sieht bei Verdi folgendermaßen aus: Der Bogen des Requiems ist zwischen der Bitte um die ewige Totenruhe und der unbändigen Angst vor dem Ende der eigenen Existenz straff gespannt. Die daraus resultierende Dramatik macht den Reiz der Musik aus, denn Verdi verbindet sich eigentlich widersprechende Aussagen: Furcht und inneren Frieden, Trauer und Lobgesang. Das Geheimnis des Glaubens, das diese beiden Pole für die Christenheit dennoch untrennbar verbindet, ist auch das Mysterium dieses Requiems.

Eine Besprechung des Konzerts können Sie hier lesen: http://schreibwolff.de/musik/mainzer-domkonzert-verdi-requiem-2018

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