Weihnachten ohne Tannenbaum und Kerzenschein mag man sich ja vielleicht noch vorstellen können. Aber ohne Musik? Das „Fest der Feste“ ist auch ein Fest der Klänge – mal pompös mit Pauken und Trompeten wie in Bachs Weihnachtsoratorium, mal besinnlich und andachtsvoll mit schlichten Adventsliedern, als Pastorale oder kunstvoll gesetztes Chorstück. Das Domkonzert schenkt den Zuhörern auch in diesem Jahr wieder von allem etwas: meditative Klänge mit Benjamin Brittens „A Ceremony of Carols“ oder Psalmvertonungen von Franz Schubert und Franz Lachner auf der einen, oratorisch angelegte Festmusik mit der „Cäcilienmesse“ von Charles Gounod auf der anderen Seite. Und nicht nur aus dramaturgischen Gründen, sondern weil sie allesamt kleine und große Gentlemen sind, lassen die Herrn vom Domchor den Damen vom Mädchenchor am Dom und St. Quintin natürlich gerne den Vortritt.
In diesem Domkonzert werden zwei Jahrestage gefeiert – der große ist der 200. Geburtstag Gounods, dessen die Musikwelt am 17. Juni gedachte, der andere ist ein eher kleiner: Vor 75 Jahren führte der Morriston’s Boys Choir mit der Harfenistin Maria Kortschinska und unter der Leitung des Komponisten „A Ceremony of Carols“ in der Londoner Wigmore Hall erstmals komplett auf. Ursprünglich war das Werk als eine Reihe einzelner Lieder geplant, aus denen Britten schließlich ein zusammenhängendes Werk für dreistimmigen Knaben- oder Frauenchor, Solostimmen und Harfe schuf. Aus diesem Kompendium erklingen heute ausgewählte Stücke.
Die Entstehungsgeschichte ist abenteuerlich: Der Sänger Peter Pears reiste mit Britten von Übersee nach Großbritannien – und das alles andere als komfortabel. Pears beschrieb die Kabine als „ärmlich [und] sehr nahe am Kühlraum für Proviant, der Geruch und die Hitze waren unerträglich und es war schwer, weil die Leute den ganzen Tag pfeifend auf dem Korridor auf und ab gingen!" Während der Überfahrt studierte der Komponist dennoch Fachliteratur, die ihm die Harfenistin Edna Phillips überlassen hatte. Man vermutet, dass Britten sich durch ein unvollendetes, von Phillips in Auftrag gegebenes Harfenkonzert zu diesem Instrument als Begleitung seiner „A Ceremony of Carols“ inspirieren ließ. Die Reise war übrigens nicht ungefährlich, da das schwedische Handelsschiff „Axel Johnson“, auf dem Pears und Britten ihre Plätze belegt hatten, durch die von U-Booten der deutschen Kriegsmarine besetzte See fahren musste – man schrieb das Jahr 1942 und der Zweite Weltkrieg bestimmte auch das Reisen. In Halifax in Neuschottland, wo das Schiff Zwischenstation machte, hatte Britten ein Exemplar von „The English Galaxy of Shorter Poems“ erworben, was ihn auf die Idee brachte, eine Sammlung von Weihnachtsliedern zusammenzustellen. Aus diesen und weiteren Texten entstand „A Ceremony of Carols“, die der Komponist bis zur Veröffentlichung 1943 mehrfach ergänzte und neu arrangierte.
Mit solcher Musik ist ein Frauenchor natürlich stets „auf der sicheren Seite“. Doch Domkantor Michael Kaltenbach steht immer wieder vor der spannenden Aufgabe, für seinen Mädchenchor passende Literatur zu suchen. Fündig geworden ist er bei Franz Schubert, obwohl dieser seine Vertonung von Psalm 23 für vierstimmigen Chor aus Sopran, Alt, Tenor sowie Bass und Orgel komponiert hatte; heute erklingt das Stück in der Besetzung von je zwei Sopran- und Altregistern mit Harfenbegleitung. Schuberts Musik auf die von Moses Mendelssohn, dem Großvater von Felix Mendelssohn Bartholdy, paraphrasierten Psalmverse ist äußerst harmonisch und abwechslungsreich – fast könnte man sagen: Romantik pur. Die Melodieführung ist introvertiert, sehr melodiös, sanglich und lyrisch.
Gleiches trifft auf das orgelbegleitete „Cantique de Noël“ des französischen Komponisten Adolphe Adam zu. Ist die Uraufführung von Brittens „A Ceremony of Carols“ 75 Jahre her, jährt es sich zum 175. Mal, dass der Priester der Gemeinde im südfranzösischen Städtchen Roquemare anlässlich der Orgelrenovierung den Dichter Placide Cappeau bat, ein Weihnachtsgedicht zu verfassen; dieser tat wie geheißen, obgleich er keine religiöse Bindung hatte. Wenig später komponierte Adolphe Adam seine Musik auf die Verse Cappeaus und verhalf ihnen so zu Weltruhm, denn „Cantique de Noël“ erfreute sich derart großer Beliebtheit, dass der Text bald auch ins Deutsche und Englische übertragen wurde. Wie Unrecht doch die Kirchenoberen damals hatten, als sie Adam fehlenden musikalischen Geschmack und mangelnde religiöse Empfindsamkeit vorwarfen…
Als Domkantor Michael Kaltenbach in einer Internetdatenbank auf die Partitur von Psalm 62 von Franz Lachner stieß, tippte er diese Note für Note ab, um sie für vierstimmigen Frauenchor und Harfe zu bearbeiten. Herausgekommen ist dabei ein vielschichtiger Gesang, der nicht nur mit seinen ausgewogenen Dreiklang-Brechungen, sondern vor allem durch den lebendigen Wechsel von Soli und Tuttichor überrascht: Die Dynamik geht vom dreifachen Piano bis zum Fortissimo und illustriert das Stück tonmalerisch. Ihre Harmoniewechsel mögen traditionell sein, doch die groß angelegten und ausdrucksstarken Modulationen stellen die Frage in den Raum, warum Lachner diese Musik nicht groß instrumentiert hat?
Das Orchester wäre ja da, möchte man meinen. Doch es konzentriert sich an diesem Abend auf die große „Messe solennelle en l’honneur de Sainte Cécile“, die „Cäcilienmesse“ des vor 200 Jahren in Paris geborenen Komponisten Charles Gounod. Bis zu seinem Tod im Jahr 1893 beschäftigte sich der als Opernkomponist gefeierte, tief religiöse Künstler auch mit der Kirchenmusik. Viele Jahre zuvor war Gounods Lehrer Jean-François Lesueur gestorben, zu dessen Ehren eine Messe seines damals 20-jährigen Schülers aufgeführt wurde. Während eines längeren Italienaufenthalts hatte dieser sich intensiv mit der Musik Palestrinas und seinem Stil beschäftigt, was ihn zu eigenen derartigen Kompositionen inspirierte. Der Eindruck dieser Kirchenmusik war dabei so eminent, dass Gounod mit dem Gedanken spielte, selbst in den geistlichen Stand zu treten. In diese Zeit fällt auch der Beginn seiner Arbeit an der „Cäcilienmesse“, Musik zu Ehren der Schutzpatronin der Kirchenmusik.
Die Bekanntschaft mit dem Komponisten Hector Berlioz, wie Gounod ein Schüler Lesueurs, und der französischen Opernsängerin Pauline Viardot-Garcia hatte dem Komponisten zu einer größeren Weltläufigkeit verholfen, die sich in seiner Hinwendung zum Genre der Oper zeigte – und auch in der durchaus weltlichen Klanglichkeit und Orchestrierung der „Cäcilienmesse“: Der Komponist verlangt für den Harfenpart nicht weniger als sechs dieser Instrumente! Erhabene Schlichtheit geht mit opernhaft-dramatischen Elementen eine effektvolle klangliche Liaison ein, wozu auch der Einsatz von weit mensurierten Trompeten (die für die Orchester der französischen Romantik verwendeten Pistons entsprechen dem deutschen Flügelhorn), des 1850 neu entwickelten Oktobass‘ sowie der Kathedralorgel führt. Gounods Kollege Camille Saint-Saëns kommentierte seinen Eindruck von dessen bekanntester Messvertonung mit flammenden Worten: Ein Leuchten entströmte der Musik – zuerst sei man geblendet, dann verzaubert, dann überwältigt gewesen. Uraufgeführt wurde das Werk am Namenstag der Heiligen Cäcilie am 22. November 1855 in der Pariser Kirche St. Eustache.
Das Kyrie beginnt andächtig: In schlichten Tönen wird Gottes Gnade erfleht, der Gestus der Musik ist zutiefst demütig. Lebendiger erklingt bereits das Gloria, doch erst mit dem Laudamus te bricht sich der Jubel in einem Allegro pomposo die Bahn. Das Miserere tritt zurück in eine meditative Besinnlichkeit, gefolgt vom Quoniam tu solus, bevor mit dem Credo der Mittel- und zugleich der Hauptteil der Messe erklingt. Hier zeigt sich die Breite des musikalischen Ausdrucks Gounods: Voller Kraft wird die Größe Gottes bekannt, das Geheimnis der Menschwerdung Christi erklingt in einem hauchzarten Adagio und die Passion Jesu mit ihrem dreifachen Aufschrei zu den sphärischen Harfenklängen bildet die Zuversicht auf das Leben nach dem irdischen Tod ab. Das Sanctus mit einem schlichten Tenor-Solo und das Benedictus voller Demut, das in ein majestätisches Hosanna in excelsis mündet – all das dokumentiert den tiefen christlichen Glauben Charles Gounods, der noch im Agnus Dei der „Cäcilienmesse“ die Worte „Domine, non sum dignus ut intres sub tectum meum, sed tantum dic verbo, et sanabitur anima mea“ einfügte: „Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“
Eine Besprechung des Konzerts können Sie hier lesen: http://schreibwolff.de/musik/mainzer-domkonzert-weihnachten-2018