Zwei unterschiedliche Werke vereinte das diesjährige Passionskonzert im Hohen Dom zu Mainz: Das „Stabat mater“ von Gioachino Rossini und „Agnus Dei 42 45“, eine Auftragskomposition von Pof. Birger Petersen.
Es ist nicht mehr als eine nette Anekdote, dass sich Gioachino Rossini mit 37 Jahren vom künstlerischen Schaffen zurückzog, um sich ganz und gar der Kulinarik zu widmen. Schließlich entstanden auch später noch wichtige Werke, darunter die „Petite messe solennelle“ und das „Stabat mater“, das Rossini 1831 (für eine mit Diamanten besetzte Tabakdose) im Auftrag des spanischen Politikers und Geistlichen Manuel Francisco Fernández Varela geschrieben hatte. Allerdings nicht komplett, denn aus gesundheitlichen Gründen hatte der Komponist einen Schüler damit betraut, vier Nummern einzurichten. Erst nach seinem Tod sollte das Werk veröffentlicht werden. Später griff der Komponist selbst zur Feder, um das „Stabat mater“ mit eigenen Partien zu komplettieren und herauszugeben. Die Uraufführung am 7. Januar 1842 in Paris war ein triumphaler Erfolg und über erste Konzerte mit dieser Musik in Bologna schrieb der Dirigent Gaetano Donizetti: „Die Begeisterung kann unmöglich beschrieben werden. Nach der letzten Probe, der Rossini bei hellem Tageslicht beiwohnte, wurde er mit lauten Zurufen von mehr als 500 Leuten nach Hause begleitet. Das Gleiche ereignete sich unter seinen Fenstern nach der Premiere.“
Am „Stabat mater“ entzündeten sich indes auch Kontroversen: Handelt es sich hier eigentlich wirklich um Kirchenmusik? Und wie gerecht wurde Rossini der gedanklichen Tiefe des Textes, der lateinischen Sequenzdichtung des Mönchs Jacopone da Todi aus dem 13. Jahrhundert über die Schmerzen der Gottesmutter am Kreuzesstamm? Mit Kirchenmusik im Geiste Giovanni Pierluigi da Palestrinas oder Giovanni Battista Pergolesis hat das „Stabat mater“ kaum etwas zu tun; einzig die Orchestereinleitung und die erste Strophe scheinen von der szenischen Situation her komponiert. Doch schon die Arie „Cuius animam gementem“ steht für opernhaft-empathische Melodik; und verhaltene Innigkeit sucht man auch in den folgenden Nummern vergebens. Womit man dem Schöpfer dieser Klänge allerdings nicht gerecht würde, denn er unterschied nicht zwischen weltlicher und geistlicher Musik.
Der Dichter Heinrich Heine verfasste auf Rossinis „Stabat mater“ eine Eloge und bescheinigte dem Komponisten, er brauche sich „den Geist des Christentums wahrlich nicht erst wissenschaftlich zu construieren, noch viel weniger Händel oder Sebastian Bach sklavisch zu copieren; er brauchte nur die frühesten Kindheitsklänge wieder so aus dem Gemüth hervorzurufen […] so ernsthaft, so schmerzentief auch diese Klänge ertönen, so gewaltig sie auch das Gewaltigste ausseufzen und ausbluten, so behielten sie doch etwas Kindliches.“ Über die Uraufführung schrieb Heine: „Das ungeheure erhabene Martyrium wurde hier dargestellt, aber in den naivsten Jugendlauten. Klagen der Mater dolorosa ertönen, aber wie aus unschuldig kleiner Mädchenkehle, […] das Gefühl der Unendlichkeit umwogte und umschloss das Ganze wie blauer Himmel, der auf die Prozession herableuchtete wie das blaue Meer, an dessen Ufern sie singend und klingend dahinzog.
Bei klassischen Werken sollte man sich immer vor Augen halten, dass sie zur Zeit ihrer Entstehung ja stets „zeitgenössische Musik“ waren. Und so wie der erwähnte Prälat Varela Rossini einen Kompositionsauftrag für das „Stabat mater“ gab, verfuhr Domkapellmeister Karsten Storck gegenüber Birger Petersen (*1972). Der Professor an der Hochschule für Musik in Mainz hatte sein Werk „Agnus Dei 42 45“ eigentlich bereits für das Passionskonzert 2018 geschrieben. Storcks Wunsch an den Komponisten lautete damals, eine Ergänzung zu Pergolesis „Stabat mater“ zu schreiben: mit hohen und mittleren Frauenstimmen sowie Orchester als Kontrast zu den Stimmen des Knabenchors. Nun verstarb kurz vor dem daraufhin natürlich abgesagten Konzert der Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann, weswegen „Agnus Dei 42 45“ seine Uraufführung erst heute und in Kombination mit Rossinis „Stabat mater“ erlebt.
Petersens Mess-Vertonung setzt sich nicht nur aus den klassischen Partien wie Credo oder Sanctus zusammen, sondern immer auch aus textlichen Ergänzungen, die allerdings in den jeweiligen Kontext passen. Der besteht bei „Agnus Dei 42 45“ aus mehreren Klammern thematischer, klanglicher und kompositorischer Art. Da ist zum einen der Anlass, zu dem das Werk entstanden ist: die Passion und mit ihr die Themen Leiden und Tod, aber auch Liebe und Vergebung; zum anderen erinnert die Musik an kriegerische Zerstörung in zwei für Birger Petersen wichtigen Städten: 1942 wurde die Altstadt von Lübeck in Schutt und Asche gelegt, 1945 geschah das gleiche in Mainz. 2018 jährte sich dazu das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. So stehen alle musikalisch abgebildeten Texte auch im Zusammenhang von Tod und Zerstörung, lenken den Blick aber auch auf eine hoffentlich friedvollere Zukunft.
Das Werk für Sopran, Alt, vierstimmigen Chor und Orchester gliedert sich in sieben Teile: Dreimal erklingt das Agnus Dei, unterbrochen von Text-Partien verschiedener Literaten, zu deren Worten der Komponist eine enge Beziehung hat: die Lübecker Dichterin Susanne Hennemann mit Versen ihrer Poeme „An den Schlaf“ und „Südliche Tage“, die jüdische Lyrikerin Meret Oppenheim, der Schriftsteller Michael Buselmeier mit dem Text „Bitte im Sommer“, Worte Paul Celans und schließlich Verse der französischen Dichterin Odile Caradec. Doch die Gedichte, deren Verfasser zum Teil auch einen Mainz-Bezug haben, sind nicht einfach nur vertont: Petersen hat sie bewusst dekonstruiert, ja gesprengt, auch um die kriegerische Zerstörung zu spiegeln. So bleibt beispielsweise im fünften Teil „In der Wüste“ von Susanne Hennemanns Text nurmehr der Satz „Der Sand baut Dir kein Haus“, worin sich für den Komponisten jedoch wiederum viele Bilder verbergen: Petersen lebte lange Zeit in Mainz-Mombach und schnell drängten sich ihm hier Erinnerungen an den Mainzer Sand und den Vorort als nach dem Krieg aufstrebender Stadtteil auf. Auch auf die klangliche Ebene baut Petersen in diesem Geist: Zwar singt der Chor in den Agnus-Dei-Sätzen vergleichsweise klassisch, hat aber in den Partien mit freier Dichtung die Aufgabe, diese zu rezitieren, in bestimmten Rhythmen zu sprechen, frei zu deklamieren oder zu summen.
Neben den Mainzer Bildern ist Lübeck im Text und vor allem auf musikalischer Ebene präsent: in Form eines kurzen Klavierstücks des Komponisten Roland Ploeger, der Birger Petersen an der Musikhochschule der Hansestadt unterrichtet hat. Das Werk „Aquis submersus“ erklingt hier allerdings für Streichquartett arrangiert und dient der gesamten Komposition als thematischer Leitfaden, als musikalisches Material. Somit erkennt man nicht nur Text-Partien wie das Agnus Dei immer wieder, sondern auch klangliche Elemente des eigentlich atonal komponierten Stück Ploegers. Wiederum spiegelbildlich fallen die Chorpartien aus, die Sätze enden jedoch stets versöhnlich.